Wer gut führen möchte, muss gute Fragen stellen.
Vorschlag für einen Fragebogen.

 

Die Forschungsfrage ist entscheidend für das Forschungsergebnis. Alle Wissenschafter/innen wissen das. Auch in der Führung von Unternehmen und Organisationen ist die Kunst, gute Fragen zu stellen, wichtig. Das gilt für das Management ebenso wie für den Aufsichtsrat und die Eigentümer-Vertreter. Wer fragt, der führt. Wer gut führen möchte, muss gute Fragen stellen. Zuerst sich selbst, und dann anderen.

Fragen bedeutet auch, dass wir zuhören wollen. Wir sind an einer Antwort interessiert. Zuhören meint, dass wir selbst schweigen, auch innerlich. Dazu braucht es eine bewusste Entscheidung, dann gerade Führungskräfte neigen dazu, zuerst selbst zu sprechen und so die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bewusstes Zuhören braucht Aufmerksamkeit. Zuhören kann man trainieren. Je älter wir werden, desto mehr Training brauchen wir, damit wir nicht immer selbst reden.

Fragen zu stellen hat eine lange Tradition. Sokrates als großer griechischer Philosoph hat durch seine Fragen seine Gesprächspartner dazu gebracht, selbst zu denken. In der Hebräischen Bibel lautet die erste Frage Gottes: Wo bist du, Adam?[1]. Jesus stellt in den Evangelien über 220 Fragen. Rainer Maria Rilke lehrt uns, die Fragen lieb zu haben[2]. Elie Wiesel schreibt, dass die Frage eine Kraft hat, die die Antwort nicht mehr besitzt[3]. Max Frisch hat in seinen Tagebüchern zahlreiche Fragebögen verfasst, die gerade für Führungskräfte sehr lesenswert sind[4].

 

Im Folgenden finden Sie einige Fragen für Führungskräfte.

Es ist eine gute Übung, die eigenen wichtigsten Fragen für sich selbst zu notieren.

 

Wer oder was gibt mir Hoffnung in schwierigen Zeiten?

Kann ich anderen Menschen Hoffnung geben? Womit?
Welche Hoffnungsgeschichten erzähle ich?

 

Kenne ich meine Verhaltensmuster und mentalen Modelle?

Was baut mich auf, was ärgert mich, was kränkt mich?
Wie gehe ich mit Fehlern um, eigenen und fremden?
Bin ich ein großzügiger Mensch?
Kann ich über andere und mich selbst lachen?

 

Wie langfristig will ich denken?

Wie viele Tage habe ich noch zu leben, bei durchschnittlicher Lebenserwartung?
Wofür setze ich meine Lebenszeit ein?
Was wird von meinem Leben bleiben?

 

Kann ich meinen Arbeitsalltag unterbrechen, um zu reflektieren?

Kann ich Stille und Allein-Sein aushalten?
Von wem habe ich gelernt, selbst zu denken?
Kann ich mich im Urteilen zurückhalten?

 

Kann ich die Perspektive anderer Personen verstehen?

Kann ich über meine eigenen, unmittelbaren Interessen hinausdenken?
Wie unterscheide ich bei mir selbst zwischen Werten und Interessen?
Kenne ich persönlich arme, kranke oder behinderte Menschen?

 

Wie reagiere ich, wenn mir ein „unmoralisches Angebot“ gemacht wird?

Wie kann ich attraktiven Angeboten widerstehen, die meine Integrität gefährden?
Wann bin ich anfällig für Schmeichelei?
Bin ich eitel und damit von anderen manipulierbar?

 

Kann ich mit komplexen Situationen umgehen?

Kann ich unklare Situationen aushalten?
Habe ich einen Sinn für Geschichte – regional, national, international?
Ist mir das Denken in Szenarien vertraut?
Finde ich Handlungsspielräume, wenn scheinbar nichts mehr möglich ist?
Kann ich anderen Menschen vertrauen?

 

Wo halte ich mich fest, wenn alles wackelt?

Was sind meine wichtigsten Quellen für Lebenssinn und Durchhalte-Vermögen?
Wer sind inspirierende Menschen in meinem Leben?
Wem antworte ich, wenn es um Ver-Antwortung geht?

 

Wer darf mir die Wahrheit sagen?

Wer sind meine Ratgeber?
Was ist meine Definition von „Freund“?
Wer sind meine Freunde, außerhalb der Familie?

 

Wie kann ich gut Nein sagen?

Von wem kann ich das lernen?
Was ist leichter für mich: Ja-Sagen oder Nein-Sagen?
In welchen Situationen werde ich widersprechen, auch wenn es mir Nachteile bringt?

 

Wo möchte ich wachsen?

In welchem Bereich möchte ich einen weiteren Horizont?
Gibt es Muster in meinem Leben, die ich verändern möchte?
Wie kann ich vermeiden, ein oberflächlicher Mensch zu sein?

[1] Genesis 3,9
[2] Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter (Leipzig, 1929, S. 21).
[3] Elie Wiesel: Die Nacht (Freiburg, 2022).
[4] Max Frisch: Fragebogen (Berlin, 2023)

 

Dr. Christian Marte SJ, geboren 1964 in Feldkirch/Österreich, arbeitete für das Österreichische Rote Kreuz, bevor er Jesuit und katholischer Priester wurde. Er ist derzeit Rektor des Jesuitenkollegs in Innsbruck, Tirol. Er studierte Betriebswirtschaft, Philosophie und Theologie in Innsbruck, München und London. Er arbeitet auch als Gefängniskaplan in Innsbruck.

 

Dezember 2023

christian.marte@jesuiten.org