Jesus und Thomas (Joh 20,24-29)

Thomas – Apostel für unsere Zeit und unser Lebensgefühl. Wir sind oft wie Thomas. Wir glauben nur das, was wir sehen. Vieles läuft falsch: bei uns selbst, in unserem Land, in der Welt. Für Thomas ist auch vieles falsch gelaufen. Die ganze Hoffnung hat er auf Jesus gesetzt – und der ist tot, hingerichtet durch die Römer. Am Kreuz vor der Stadt Jerusalem. Und jetzt sagen die Freunde, er lebe. Wenig realistisch. Auferstehung? Wer soll das glauben? Das will ich zuerst sehen. Thomas ist uns nahe, ich verstehe ihn gut.

Gerade mit dem Wort „Auferstehung“ habe ich mir lange schwer getan, trotz Theologie-Studiums. Es war für mich ein künstliches Plastikwort. Wenn Auferstehung so wichtig ist für uns Christinnen und Christen: Warum spüre ich Auferstehung dann nicht? Geholfen haben mir Exerzitien, in denen ich nur die biblischen Auferstehungsberichte meditiert habe. Und da ist es mir aufgegangen. Auferstehung bedeutet: Neu anfangen. So übersetze ich es für mich. Und wenn ich etwas Neues beginne, dann merke ich manchmal: das ist ein Auferstehungsmoment.

Einen neuen Anfang setzen können. Das ist meine liebste Definition von Freiheit. Und sie ist auch ein großer Trost. Wenn ich im Gefängnis bin und mit Häftlingen spreche, dann kann ich ihnen sagen: Wir sind nicht vollständig durch unsere Vergangenheit festgelegt. Wir dürfen neu beginnen. Diese Chance des Neubeginns bekommt auch Thomas.

Jesus zeigt Thomas seine Wunden. Er fordert Thomas auf: Berühre meine Wunden! Das verwandelt Thomas. Er antwortet: „Mein Herr und mein Gott!“ Das ist die stärkste Aussage zur Göttlichkeit Jesu in der ganzen Bibel.

Mitte Februar 2023 war ich in der Ukraine, in Lemberg. Gleich am ersten Tag gab es drei Mal Luftalarm. Immer wieder Sirenen. Dann hören wir sechs explodierende Raketen. Die Kinder haben Angst. Die Erwachsenen versuchen sich zu beherrschen. Frauen sind in Sorge um ihre Männer an der Front. All das selbst zu erleben, an Ort und Stelle und nicht nur durch Medienberichte, das verändert und verwandelt. Die Verwandlung des Thomas, sein neuer Blick auf die Wirklichkeit: das alles beginnt mit dem Sehen der Wunden.

In unserer Kultur ist das Zeigen von Wunden unerwünscht. Die polierte Oberfläche dominiert, das perfekte Design: bei uns als Einzelnen, in unseren Betrieben, in der Kirche und in der Gesellschaft als Ganzes. Die Wirklichkeit hinter der Fassade schaut anders aus: verwundete Menschen, einsame Menschen, bittere Menschen.

Wie kommt man heraus aus solchen Lebenssituationen? Verwandlung zum Guten hin kann es geben, wenn wir unsere Wunden zeigen dürfen: dass wir uns manchmal schämen, dass wir einsam sind, unsicher, traurig oder wütend. 

Das braucht Mut und ist nichts für Feiglinge. Jesus ist hier unser Vorbild. Er zeigt seine Wunden. Woran erkennen die Jüngerinnen und Jünger den Auferstandenen? An seinen Wunden. Nicht an seinen Leistungen.

Wenn Sie etwas Inspirierendes lesen wollen, dann schauen Sie sich die Bücher von Brené Brown an. Die amerikanische Professorin schreibt über die Kraft der Verletzlichkeit (engl. vulnerability). Auch online gibt es gute Videos von ihr.

In der katholischen Tradition haben wir Orte, unsere Wunden zu zeigen. In Exerzitien, in der geistlichen Begleitung, in der Beichte. In diesen geschützten Orten können wir Jesus unsere Wunden hinhalten – und merken dann, dass er das gut versteht und uns dadurch noch näher ist. Das ist der Moment der Verwandlung, den auch Thomas erlebt.

Es braucht Mut, unsere eigenen Wunden zu zeigen. Eher wollen wir sie ja verstecken. Wenn wir uns an Jesus orientieren (für Christinnen und Christen: An wem sonst?), dann dürfen wir uns trauen, unsere Wunden zu zeigen, so wie Jesus. Das verwandelt unsere Beziehungen: sie werden tiefer, ehrlicher und offener für die Wunden anderer. Und es bringt uns Jesus nahe, so dass wir, langsam, vorsichtig, zögernd, mit Thomas sagen können: „Mein Herr und mein Gott!“.

 

Verfasst für das Oster-Pfarrblatt von St. Stephan, Wien.