Ich fange mit einer kurzen Begebenheit an. Vor 20 Jahren habe ich hier in München Philosophie studiert, an der Hochschule der Jesuiten. Jeweils am Donnerstag bin ich mit der U-Bahn in die Justizvollzugsanstalt Stadelheim gefahren – als Gefängniskaplan. Ich besuche einen Gefangenen in seiner Einzelzelle und bringe ihm eine Postkarte: eine Marien-Ikone. Zwei Wochen später besuche ich ihn wieder in seinem Haftraum. Nun hängt das Marien-Bild mit einem goldenen Rahmen an der Wand. Den Rahmen hat der Häftling selbst gemacht, aus der Innenseite seiner Alu-Zahnpasta-Tube. Schönheit zur Stärkung der Seele, Schönheit im Gefängnis, Schönheit zur Ehre Gottes. 

Ich möchte heute über die große Bedeutung von Schönheit predigen, über Literatur, Musik und Kunst. Momente von Schönheit wahrnehmen – so wie Petrus, Jakobus und Johannes Jesus sehen, neu, leuchtend, anders als bisher.

Wie Sie das von einem Jesuiten erwarten dürfen, möchte ich Ihnen drei Punkte zur Überlegung vorlegen. Zuerst eine Zeitdiagnose, dann der Blick auf Literatur, Musik und Kunst. Und schließlich ein paar praktische Hinweise zur geistlichen Lebenskunst. 

 

I.

Von einer Fastenpredigt wird man keine vollständige Zeitdiagnose erwarten können. Dafür ist zu viel los in der Welt. Wir erfahren in den Nachrichten mehr als wir verarbeiten können. Mir hilft es, nach Leitfragen zu suchen. Leitfragen, die in einer Organisation oder einer Gesellschaft die Richtung vorgeben.

Und so eine Leitfrage unserer Gegenwart ist die Frage: „Was bringt mir das?“. Vermutlich ist sie sogar die dominante Frage. Es geht dabei um eine Abwägung von Aufwand und Ertrag. Wenn ich Zeit und Energie einsetze: Was kommt dabei heraus? Was nützt es mir? Es ist die Frage nach dem Input-Output-Verhältnis, eine Grundfrage in der Ökonomie.

Bevor ich Jesuit wurde, habe ich Ökonomie studiert, genauer: Betriebswirtschaft. Dort ist die Frage des optimalen Ressourceneinsatzes sehr wichtig. Und diese Frage hat auch ihre Berechtigung. Allerdings, und das ist nun meine Beobachtung, ist diese Frage nun dabei, alle Lebensbereiche zu erobern, bis hin zur Kindererziehung und zum geistlichen Leben. Und da wird es heikel.

Den größeren historischen Bogen erkennt man, wenn man schaut, was nach dem II. Weltkrieg als Studium generale angesehen wurde. Wenn jemand nicht genau wusste, was er oder sie studieren sollte: dann fiel die Wahl auf … Jura. Mit einem Jura-Studium konnte man in der Industrie ebenso arbeiten wie in der öffentlichen Verwaltung.

Jura: das war nicht nur Zivil- und Strafrecht, sondern Römisches Recht, Rechtsphilosophie, und früher auch noch Kirchenrecht. In den 1980er Jahren hat sich das verschoben: von Jura zur Betriebswirtschaft. Ich bin das beste Beispiel dafür. Nun wurden Soll und Haben wichtig, Budgets und Excel-Sheets.

So ist eine neue „Grammatik der Nützlichkeit“ entstanden. Buchstäblich alle Bereiche des Lebens unterliegen zunehmend dieser Grammatik. Es gilt der Primat der Ökonomie – und als Ökonom habe ich ein ziemlich gutes Sensorium dafür. Schon die Spiele für die Kinder sollen zu etwas nütze sein: die Kinder sollen beim Spielen gleich auch noch etwas lernen. Man nennt das „Lernspiele“. Spielen um des Spielens willen, das scheint vergeudete Lebenszeit zu sein.

Die Leitfrage „Was bringt mir das?“ untergräbt unser Mitgefühl mit anderen Menschen. Dem anderen helfen, dem es nicht so gut geht – was bringt mir das? „Vielleicht will mich der andere ausnützen. Jeder sollte doch auf sich selbst schauen. Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied.“ Das sind die mentalen Modelle, die aus dem Nützlichkeitskalkül entstehen. Und damit verabschiedet man sich unmerklich aus der Verantwortung für den anderen Menschen. Die Frage Gottes an Kain ist bis heute top-aktuell: „Wo ist dein Bruder Abel?“ – Und Kain antwortet: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“[1]

Ähnlich ist es beim Verständnis von Wahrheit, Recht und Gemeinwohl. Wenn Wahrheit, Recht und Gemeinwohl nicht mehr als objektiv wertvolle Güter für uns alle angesehen werden, sondern nur nach „Nützlichkeit für mich“ sortiert werden, dann heißt es: Wahr ist, was mir nützt. Recht ist, was mir Vorteile bringt. Ich sehe dieses kurzfristige Nützlichkeitskalkül als einen wesentlichen Treiber von fake news, Verschwörungstheorien und politischen Spekulanten ohne Verantwortungsgefühl.

Wenn man dann als Gesellschaft vor großen Fragen des Gemeinwesens steht – Stichworte: Russlands Krieg gegen die Ukraine; Klima-Veränderung – dann tut man sich mit diesen individuellen Nützlichkeits-Mantras schwer, gemeinsame Wege zu finden. Jeder optimiert sich nur selbst, und genau deshalb kommt insgesamt nichts Gutes heraus. In der Spieltheorie wird das im bekannten Gefangenen-Dilemma abgebildet.

Damit Sie mich recht verstehen: Ich bin kein Kulturpessimist. Ich möchte jetzt leben – und nicht in einer vergangenen Zeit. Früher war nicht alles besser. Jetzt leben und die Wirklichkeit ganz wahrnehmen, die guten Dinge und die schwierigen. Darum geht es. Und dazu gehört auch die immer stärker werdende kulturelle Leitfrage: „Was bringt mir das?“.  Wie gehen wir damit um, auch als religiöse Menschen, als Religionsgemeinschaften, als Gesellschaft insgesamt? Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt heute: den Blick auf Literatur, Musik und Kunst.

 

II.

Um es gleich zu sagen: Literatur, Musik, Theater, Filme, Architektur, bildende Kunst – sie haben einen Eigenwert, sie sind um ihrer selbst willen da. Sie müssen nicht nützlich sein. Sie sind gleichsam ein Gegengewicht zur rein ökonomischen Formatierung der Welt. Ja, sie zeigen uns einen Weg heraus aus dem Nützlichkeits-Paradigma. Kurz gesagt: Kunst ist nicht nützlich, aber sinnvoll. So gesehen gibt es eine große Nähe, ja eine Verwandtschaft zu religiösen Deutungen der Welt – und auch zur religiösen Praxis.

Manchmal sagen wir ja: „Ich bin praktizierende Christin, praktizierender Christ.“ Und damit meinen wir, dass wir irgendwie involviert sind und unseren Glauben selbst aktiv leben. Das scheint mir auch im Bereich der Kunst wichtig: Wir sind nicht nur auf der empfangenden Seite, in dem wir zum Beispiel schöne Musik genießen. Wir können auch selbst aktiv involviert sein, indem wir schreiben, malen, musizieren, fotographieren oder etwas schön gestalten.

Vor drei Wochen war ich in der Ukraine, in Lemberg – Freitag, Samstag – und am Sonntag zurück nach Krakau. Am Freitag drei Mal Luftalarm, einmal sechs Raketen-Detonationen in der Stadt. Flüchtlingskinder zeichnen das, was sie erleben. Sie basteln und tanzen. So stärken sie ihre Seele. Und nur, damit das hier auch gesagt ist: Sie können sich vorstellen, was ich von Aussagen halte, dass es eine Lösung brauche, die dem russischen Aggressor in diesem Krieg „sein Gesicht zu wahren erlaubt.“[2] Er hat es schon lange verloren.

Das zentrale Ereignis, wenn es um Kunst geht, ist für mich: Imagination.

Imagination, Vorstellungskraft, innere Bilder. Das wird Sie nicht wundern. Für uns Jesuiten sind die Exerzitien des Ignatius von Loyola sehr wichtig – und dort ist die Imagination biblischer Geschichten ein wesentliches Element. Die Kraft, stärkende innere Bilder aufzurufen, hilft uns, gerade wenn wir in schwierigen Situationen sind. Sie führen uns von der Enge in die Weite.

Imagination bedeutet auch, dass wir Menschen uns unser Leben anders vorstellen können als es gerade ist. Robert Musil spricht im „Mann ohne Eigenschaften“ vom Wirklichkeitssinn und vom Möglichkeitssinn, ja er schreibt sogar vom „Möglichkeitsmenschen“. So ein Möglichkeitsmensch möchte ich sein. Ich selbst und die Welt: das könnte auch anders sein – und dass wir uns das vorstellen können: dazu helfen mir Gedichte – von Rose Ausländer, von Hilde Domin, von Mascha Kaleko, und auch von Eugen Roth. Und natürlich die Psalmen, besonders 23, 25 und 27.

Imagination hat mit Bildern zu tun, mit Sehen und Schauen. Die meisten unserer Sinneseindrücke nehmen wir mit unseren Augen auf. Wir Menschen sind „Augentiere“. Schauen Sie sich hier in der Kirche um: So viele visuelle Eindrücke. Und alles ist ausgerichtet, auf einen Punkt. Unser Blick wird geführt, meist ohne dass uns das bewusst ist. Wir kommen in die Kirche, und ganz beim Eingang: das kleine Jesus-Kind.

Es schaut zum Kreuz, so wie wir jetzt – und dann zum Hochaltar, zum auferstandenen Jesus. Von Heinrich Spaemann gibt es das Wort: „Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.“ Die Architekten dieser Kirche wussten das – und führen unseren Blick bis heute zum Auferstandenen. Es ist wie im Evangelium heute: „Als sie aufblickten, sahen sie nur Jesus.[3]

Dass wir als Gesellschaft, dass wir als Christinnen und Christen solche Räume wie St. Michael haben, das stärkt uns als Einzelne und als Gemeinschaft. Kirchen sind nicht nützlich, auch Museen und Galerien nicht. Aber es ist eben wichtig, dass wir Orte haben, die nicht nützlich sein müssen. Sie sind sinnvoll, sie gehören zu unserem Leben. Darum sind Veränderungen in diesen Räumen besonders heikel. Nur als kleine Imaginationsübung: Stellen Sie sich die Auseinandersetzungen bei den Übergängen vor: von der Romanik zur Gotik und weiter dann zum Barock. Und diese Übergänge gibt es natürlich auch in der Musik.

Von Leonard Cohen gibt es ein Lied, das heißt „Anthem“. Und in diesem Lied kommt eine Zeile vor, die mir immer wieder durch den Kopf geht: „Forget your perfect offering. There is a crack in everything, that’s how the light gets in.“ [Vergiss dein perfektes Opfer. Es ist ein Riss in allem – so kommt das Licht herein.]

Wir werden in unserem Herzen berührt von Musik bei einem wunderbaren Konzert bei den Salzburger Festspielen. Und dann hören wir einen rumänischen Straßenmusiker, Ziehharmonika, vor ihm ein Hund und ein Papp-Becher, mit dem er um eine Spende bittet. Auch diese Musik berührt unser Herz – wenn wir es zulassen und einen Augenblick verweilen. Das Licht kommt eben auch dort herein, wo die Dinge nicht so „schön“ sind, ja sogar aus weggeworfenen Alltagsdingen.

„Trash art“ ist in der bildenden Kunst mittlerweile ein eigenes Genre. Wirklich angesprochen hat mich das erstmals in London, in der Tate Modern: Tony Cragg hat aus Alltagsgegenständen eine Art Mosaik gemacht, eine „Assemblage“. Bis heute sehe ich dieses Bild vor mir – es war ein Bild für mein Leben: alles war irgendwie unverbunden, nebeneinander – und doch war es ein Ganzes, und darum war es schön.

Die Sehnsucht nach Schönheit spüren wir noch viel konkreter, wenn wir uns über das schöne Design von Produkten freuen: ein neues Mobiltelefon, eine ansprechende Homepage oder ein „Reel“ auf Instagram. Jugendkultur lebt von Graffitis, Videoclips, Tatoos und besonderen Frisuren. Es tut uns gut, das wohlwollend zu sehen – und mit unseren Wertungen zurückhaltend zu sein. So klar ist es eben nicht, was „schön“ ist und was nicht. Es stimmt schon, wenn es im Englischen heißt: „Beauty is in the eye of the beholder.“

 

III.

Ich möchte Ihnen nun zum Schluss eine kleine Checkliste mitgeben: sieben Ideen, wie wir in der Zeit auf Ostern hin unsere Seele stärken können.

  1. Zuerst einen Blick auf unsere innere Disposition Alles fängt damit an, dass wir etwas finden, wofür wir dankbar sind. Vielleicht möchte ich heuer besonders auf das schauen, was für mich schön ist.
  2. Dann das freundliche Gesicht. Ein Lächeln für mich selbst und für die anderen. Das tut der Seele gut.
  3. Die Schönheit der Stille In eine leere Kirche sitzen. Nichts tun, nur da sein. Sie werden staunen, was da alles geschieht.
  4. Mein Zimmer, meine Wohnung, mein Haus, mein Arbeitsplatz: Wo schaue ich hin? Welche Bilder möchte ich umhängen? Gibt es eine Ikone oder ein Kreuz?
  5. Fastenzeit – das könnte heuer heißen: Intelligente Reduktion. Was brauche ich wirklich? Diese Frage allein ist schon ziemlich stark und wirkt.
  6. Die Freude am Guten. Gutes wahrnehmen, Gutes tun. Meine Spielräume zum Guten hin nützen, für andere.
  7. Und schließlich: Meinen Glauben ernst nehmen. Als Geländer zum Festhalten, wenn alles wackelt. Als Korrektiv, wenn ich mich verrannt habe. Als Inspiration für einen Neu-Anfang.

Vom ehemaligen Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher gibt es ein Wort, das ich Ihnen allen gerne mitgebe für diese Fastenzeit:

„Das Gute spielt in dieser Welt seinen Part meist piano und pianissimo, und es gehört zur Lebenskunst, es nicht zu überhören.“

Wir brauchen Schönheit für unser Leben, für unser Seele.

Schönheit, Kunst und Lebenskunst gehören zusammen.

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Fastenzeit.                                                

Amen.

 

[1] Gen 4,9

[2] Jürgen Habermas: Süddeutsche Zeitung, 15. Februar 2023

[3] Mt 17,6